Das Märchen ist schnell erzählt: In Mönchengladbach hat sich die örtliche Wirtschaftsförderung und der Lehrstuhl von Gerrit Heinemann zusammengetan, um den stationären Händler im Angesicht des wachsenden Onlinewettbewerbs zu helfen (gute Sache!). Das Projekt hieß MGRetail 2020. (Laufzeit 2014-2015) Dieses Projekt hat diverse Maßnahmen aufgezeigt, mit denen sich stationäre Händler etwas vom Onlinekuchen abschneiden können. Aus dem Projekt ist dann ein weiteres Experiment mit eBay entstanden, bei dem Händler ihre Produkte bei eBay (temporär kostenfrei) listen durften, um so dem Umsatzrückgang gegenzuwirken. (Laufzeit 2015 bis heute) Im Ergebnis standen dann viele erfolgreiche stationäre Händler, laut einzelner Protagonisten eine redutierter Innenstadtfrequenzrückgang und sage und schreibe 90.000 Zusatzumsatz pro Händler. Soweit zum Märchen aus meiner Sicht.
Es dürfte in den vergangenen Monaten kaum eine lokale Gesprächsrunde mit stationären Händlern gegeben haben, in der es nicht um “Überlebens-” Strategien für die Geschäftsmodelle in den Innenstädten ging und mittlerweile hat es das Thema sogar in die regelmäßigen Debattenmagazine der dritten Programme geschafft. Wahrscheinlich wurde schon jede nur mögliche Strategie zur Kundenrückgewinnung von den betroffenen Händlern und Gemeinden ausprobiert und gemessen an den bisher erzielten Ergebnissen kann man durchaus sagen, dass es zunehmend schwerer wird für das klassische Handelsmodell, in dem der Verkauf von Ware im Vordergrund stand. Diese Entwicklung wird sogar von gestandenen Händlern in den diversen Kassenzone-Podcasts bestätigt. Obwohl man nun mit etwas gesunden Menschenverstand darauf kommen muss, dass es mit etwas mehr Parkflächen in den Innenstädten nicht getan sein dürfte, hält das viele Experten in den genannten Debattenmagazinen nicht davon ab, den betroffen Händlern eine bereits 2005 überholte Onlinestrategie zu empfehlen. “Geht online, denn der Kunde ist da.” “Handel ist Wandel, das war schon immer so:” “Großstädte haben das Problem nicht, die Kunden wollen am Wochenende auch mal raus aus der Wohnung.” Wenn diese Aussagen nun von einem lokalen Interessenvertreter kommen, habe ich dafür sogar noch Verständnis. Entweder weiß er es nicht besser oder er stellt sein lokales Interesse in den Vordergrund. Wenn diese Aussagen aber von den Protagonisten des oben genannten Märchens kommen, hat das für mich einen bitteren Beigeschmack, weil betroffene Händler das tatsächlich glauben könnten.
Konkret geht es für diesen Beitrag um die Kommentare von Prof. Gerrit Heinemann im 3Sat Beitrag “Existenzkampf im Handel”, in denen er genau solche, aus meiner Sicht fatalen, Aussagen trifft. Er steht damit nicht alleine da. Regelmäßig werden hanebüchene Best Practice Cases (John Lewis, Macy´s, Nordstrom…) zitiert, um den Charme des klassischen Handelsmodels zu bewerben. Alle Cases entpuppen sich dann bei genauer Draufsicht als Augenwischerei. Es gibt dutzende Möglichkeiten, um sich online zu emanzipieren und nicht Amazon das Feld zu überlassen. Omnichannel-Strategien gehören aber nicht dazu. Es gibt weltweit kein einziges (mir bekanntes) stabiles Beispiel einer solchen Strategie, das dazu geführt hätte, Marktanteile von Amazon & Co. zurückzugewinnen. Im Gegenteil, diese Strategien erweisen sich als Kostengrab. Wenn aber schon Milliardenunternehmen bei diesen Strategien scheitern, dann ist es doch grober Unfug betroffenen lokalen Händlern so etwas zu empfehlen. Gerrit Heinemann verweist in diesem Zusammenhang dann gerne auf das “ebay Mönchengladbach”-Projekt. Wenn man lediglich die Schlagzeilen dazu liest, dann klingt das sehr erfolgreich.
Die ersten Ergebniszahlen übertreffen alle Erwartungen. Es ist uns nicht nur gelungen, den weiteren Frequenzrückgang in der Innenstadt zu stabilisieren, sondern auch überproportionale Umsatzzuwächse bei den beteiligten Händlern zu realisieren. Die Durchschnittszahlen sind erheblich besser als die anderer regionaler Marktplatzmodelle in weiteren Städten.
Auf dieses Projekt refenziert Gerrit Heinemann. Infos zum initialen Projekt finden sich unter mgretail2020.de, welches von Heinemanns Lehrstuhl aktiv begleitet wurde. Dort wird über das nachfolgende Sonderprojekt mit eBay folgendes vermittelt.:
- 79 Händler haben mitgemacht
- 3,2 Mio. € Umsatz wurden innerhalb von 9 Monaten über deren eBay-Accounts erzielt
- 200.000 Artikel waren online
- 87.000 Artikel wurden verkauft
- pro Händler wurden Umsatzzahlen von 90.000 Euro zusätzlich kommuniziert (also on top zum sonstigen Geschäft)
90.000€ Zusatzumsatz pro Händler. Das klingt fantastisch, aber leider kann mir niemand nachvollziehbar erklären wie diese Zahl zustande gekommen ist. Das direkt nach der kostenlosen Pilotphase (der eBay Shop war für die Händler kostenlos) nur noch 30 von den 79 Händler weitergemacht haben, spricht auch nicht für einen durchgreifenden Erfolg, aber wenn es wenigsten den 30 Händler helfen würde, wäre das ja auch schon toll. Meine Vermutung war, dass der Umsatz von wenigen Händlern gemacht wurde, die ggf. schon vorher bei eBay aktiv waren und die PR-Effekte der Aktion zwar mitgenommen haben, es hier um Zusatzumsatz ging, der den Händler der Innenstadt zugute gekommen ist. Wer hat nun Recht?
Für diesen Zweck haben sich drei Teilnehmer der Kassenzone-Whatsapp-Gruppe bereit erklärt, möglichst viele der Händler anzurufen, um herauszufinden was wirklich passiert ist. Dabei waren u.a. Janina Kummerfeldt, Studentin der Leuphana Universiät und Axel Heinz, Gründer und Geschäftsführer von Makerist.de. Was haben Sie herausgefunden?
Zum Zeitpunkt der Befragung (Februar 2018) waren 47 Händler auf der eBay MG Landingpage verzeichnet. 17 dieser Händler sind bei eBay aber inaktiv. Das Portal selbst scheint damit nicht aktuell zu sein. Von den verbleibenden 30 Händlern, konnten wir 16 erreichen und befragen, ob & wie viel mehr Umsatz sie durch die Aktion verzeichnen konnten:
- Nur fünf Händler haben sich davon in Summe positiv geäußert. Darunter war ein Wellness Studio, das 5% Umsatzwachstum verzeichnen konnte. Eine Apotheke hat zu Protokoll gegeben, dass die Aktion die bisherigen stationären Umsatzrückgänge sogar ausgleichen konnte. Die anderen Händler haben den Vermarktungseffekt (Mönchengladbach und eBay) gelobt, aber keinen Mehrumsatz messen können.
- Sechs Händler fanden die Aktion grundsätzlich ok, ohne jedoch einen spürbaren Mehrwert dadurch zu erfahren. Einem Händler war es zu viel Arbeit, andere Händler die vorher schon einen eBay Shop hatten, konnten kein Umsatzwachstum feststellen. In Summe also gar keine messbaren Ergebnisse, aber diese Gruppe hat zumindest das Engagement von eBay und der Stadt gelobt.
- Die restlichen fünf Händler haben sich eher negativ geäußert und in Summe darauf verwiesen, dass Aufwand und Ertrag in keinem sinnvollen Verhältnis standen. Einige dieser Händler hatten auch technische Probleme, z.B. bei der Anbindung des Kassensystems.
Außer einer handvoll Händler, von denen auch einige schon vorher einen eBay Shop hatten, ist von der ganzen Aktion in unserer Auswertung nichts Nachhaltiges für die Händler hängen geblieben. Es ist vollkommen schleierhaft, wie 90.000 Euro Zusatzumsatz pro Händer errechnet wurden. Keiner der Händler, auch nicht die erfolgreichen aus unserer Umfrage, konnten auch nur annähernd solche Werte ausweisen. Ggf. ist der ebay-Umsatz dem örtlichen Mediamarkt zuzuordnen, der auch der Aktion zugerechnet wurde. Aussagen wie diese hier sind auf Basis der von uns gemachten Erkenntnisse einfach falsch.
Ein Beispiel für eine solche Lösung ist das von Heinemann initiierte Projekt Mönchengladbach bei Ebay. Es bietet Händlern neben einer eigenen Mönchengladbach-Seite auch Zugang zu Millionen Ebay-Kunden weltweit. „Das sorgt zwar nicht für zusätzliche Belebung in der Mönchengladbacher Innenstadt, aber es hilft den beteiligten Mönchengladbacher Händlern zu überleben“, meint Heinemann.
Blinder Aktionismus in Richtung Amazon und/oder eBay hilft gar keinem Händler. Entweder er hat ein kompetitives Angebot (bester Preis und sofortige Verfügbarkeit) welches er dort listen kann oder er lässt es bleiben. Und Händler mit diesen Angeboten findet man in der Regel nicht in der Innenstadt. Wenn es nur um den Preis ginge, könnte das der ein oder andere Händler sogar noch leisten, aber das im E-Commerce erwartete Serviceniveau (Produktbeschreibungen, Antwortzeiten, Retourenprozess…..) ist sogar für Pure-Play-Onlinehändler mit mehr als 100 Millionen Umsatz kaum machbar. Innenstadthändler in diese Richtung zu drängen ist damit aus meiner Sicht fahrlässig. Was heißt das nun?
Mir ist noch immer nicht klar wie Gerrit Heinemann zu den o.g. Schlussfolgerungen kommt. Wir haben nicht alle Händler der Aktion erreicht, aber unsere Daten wecken gar keine Hoffnung darauf, dass sich die beteiligeten stationären Händler in diesem Projekt einen nennenswerten Zusatzumsatz erarbeiten konnten (online + stationär). Im Gegenteil, die Daten geben Anlass zur Warnung. Sollten wir hier ganz krass daneben gegriffen haben und die nicht erreichten Händler sind tatsächlich für die hohen Zusatzumsätze zuständig, dann ergänze ich das gerne. eBay hat uns dazu bisher leider keinen aufschlußreichen Daten geliefert.
Für eBay ist die Wertung aus meiner Sicht ambivalent. Der Presserummel rund um das Projekt war sicher hilfreich für eBay, aber das Projekt als vollen Erfolg zu bezeichnen, bezieht sich wahrscheinlich nicht auf den nachhaltigen Zusatzumsatz für die Händler aus Mönchengladbach. Was klar ist, und das zeigen auch die Umfragen, dass man eBay als Plattform sehr gut nutzen kann, wenn man das entsprechende Angebot hat. Von vielen Händlern wurde auch kritisiert, dass das Projekt nicht ausreichend beworben wurde und die meisten Kunden nichts davon wussten. In vielen Bereichen funktioniert eBay sogar besser als Amazon, aber das hat mit der Innenstadt alles nichts zu tun.
Die Wirtschaftsförderung der Stadt Mönchengladbach hat uns dankenswerterweise ein paar Daten zu dem Projekt zur Verfügung gestellt und als Forschungsprojekt halte ich die Aktion auch für sehr lobenswert. Die Angebotskonzepte der Händler in MG liegen nicht in der Verantwortung der Wirtschaftsförderung, aber die Aktion hat gezeigt, dass man so eben keine Mehrfrequenzen in der Innenstadt erzeugen kann oder stationäre Geschäftsmodelle wiederbelebt, die nun im Onlinewettbewerb stehen. Hätte ein hohes Werbebudget der Stadt für diese Aktion etwas verändern können? Aus meiner Sicht nein, weil das Innenstadtangebot nicht wettbewerbsfähig ist.
“Ja, aber Herr Graf, was sollte denn der stationäre Händler nun tun?” Er könnte sich z.B. anhören was Knud Hansen (Intersport Kiel) oder Marc Rauschen (LT Osnabrück) dazu im Kassenzone Podcast sagen. Sie müssen ja gar nicht meiner eher bedrückenden Sichtweise folgen (Handel 2025: Welcher Handel?), aber anderen Händlern mit echter Praxiserfahrung aus den letzten, sehr intensiven Jahren sollten sie zumindest mal zuhören.
Derzeit ist allen Händlern ersichtlich, und das wurde in der Befragung auch so geäußert, dass sich die schon 2001 von Michael Porter geschilderte Situation bei allem „Wandel im Handel“ bewahrheitet und auf Plattformen wie eBay der Preis das stärkste Argument für den Konsumenten ist. Die Preisspirale kann der „kleine“ Händler nur verlieren. Jeder Händler soll sich auf das konzentrieren, was er richtig gut kann und mit diesem Können die Perspektive des Konsumenten einnehmen: welchen Grund hat der Konsument genau bei mir einzukaufen (on- oder offline)? Wenn er selbst als Händler keinen Grund und keine Perspektive findet bei sich einzukaufen, sollte er schnellstens dieses Geschäft einstellen.
Zur Klarstellung: Ich finde das Projekt in Mönchengladbach und auch die damit verbundenen Initiativen von Heinmanns Lehrstuhl sehr lobenswert. Die Interpretation der Ergebnisse sehe ich allerdings sehr kritisch und in Anbetracht der Lebenswirklichkeit der stationären Händler beinahe zynisch.
Update 1: Erich Althaus von noline.ch hat sich das eBay MG Projekt bereits im Februar genauer angeschaut und ähnlich skeptisch wie ich bei der Interpretation der Ergebnisse. In den Kommentaren dort nimmt Gerrit Heinemann auch Stellung zu seiner Sichtweise.
Wenn man nun die nationalen Händler dazu nimmt dann verhaut es das Bild der Bewertungen komplett. Alleine MM und Saturn haben Bewertungen in der Höhe von 463’000 Bewertungen in den letzten 12 Monaten auf eBay (interessanterweise mit fast keinen Seitenaufrufen ….) . Was für mich darauf schliessen lässt, das diese vermutlich so auch in die kommunizierten Umsatzzahlen eingeflossen sind.
Update 2: In dem Kommentaren bei noline.ch äußert sich Gerrit Heinemann zu den 90.000 Euro. Diese Umsatzzahl hat gemäß dieser Definition nichts mit den tatsächlich erreichten Umsatzzahlen zu tun:
Bei 120 tsd. Marktplatzpartnern, die eBay Deutschland hat, entsprechen die realisierten Durchschnittsumsätze des Pilotprojekts auch den Gesamt-eBay-Durchschnittsumsätzen (bei ca. 11 Mrd. Handelsvolumen). [11 Mrd. / 120.000 Händler = 91.000€ Umsatz]