eFood Update 2020 mit Udo Kiesslich

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Wer als LEH Anbieter nach den Wahnsinnsmonaten März bis Juli nicht in digitale Infrastruktur und Logistik investiert, dem ist kaum noch zu helfen. Mit dem eFood Staranalysten Udo Kiesslich bespreche im Detail die Entwicklung der letzten 18 Monate mit Fokus auf die Corona Effekte, die Wachstumszahlen in Deutschland und den USA und natürlich die vielen neuen Services und Initiativen die sich in dem Bereich gebildet haben. Besonders beeindruckend ist natürlich das Gorillas Modell aus Berlin, aber auch viele andere Unternehmen haben tolle Erfahrungen gemacht und mussten teilweise ihre Lieferungen „künstlich“ begrenzen, um ausreichend viele Kunden bedienen zu können. Wie krass!

Alexander Graf

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Online-Lebensmittelhandel 2020 mit Udo Kiesslich, E-Food-Experte und Kassenzone-Dauergast

Das letzte Gespräch in der losen Reihe „E-Food-Updates mit Udo Kiesslich“ liegt mittlerweile gut 18 Monate zurück. Eine neue Aufnahme war also schon lange fällig. Allerdings war im Frühjahr 2020 im Lebensmitteleinzelhandel online so einiges los. Daher ist es vom Vorteil, dass dieses Gespräch erst nach den Wahnsinnsmonaten der Coronakrise stattfindet. Denn diese haben dem Online-Handel im Lebensmittelbereich enorme Schübe beschert – und entsprechende Herausforderungen. Ja, das Wachstum – so eine Schlüsselerkenntnis aus diesem Gespräch – hätte viel stärker ausfallen können, wenn die entsprechenden Kapazitäten da gewesen wären. Auch Thema: Bekannte Größen wie Ocado im UK, neue Player wie Gorillas in Berlin und die 10%-Marke für den Online-Anteil im LEH.

„Ab einer bestimmten Größe kommt man nicht mehr um ein automatisches Lager drum rum.

4:40                                                                                                            

Alex: Anfang 2019 war unser Fazit für das zurückliegende und unsere Vorhersage für das neue Jahr: Picnic gehört zu den Gewinnern. Damals war Picnic noch neu. Mittlerweile hängt es wohl vielen Kassenzone-Hörern zum Halse raus, weil es so oft als Beispiel dient! Amazon gehörte dahingegen zu den Verlieren. Begeistert haben wir auf Ocado geschaut und eher fragend auf Rewe, weil sie da einfach nicht aus dem Knick gekommen sind und das vollautomatisierte Lager in Köln ja noch im Bau war. Bevor wir zu Corona kommen, fangen wir mal mit dem Fazit für 2019 an: Wie ging es weiter? Amazon top, Picnic flop?

Udo: Erstmal generell zum Markt: 2019 war wieder ein sehr gutes Jahr für E-Food. Das Marktsegment ist in Deutschland mit 18%-19% gewachsen und war damit das zweitschnellste vertical überhaupt. Auf der Anbieterseite gab es Neueinsteiger wie Picnic und feste Größen wie Rewe. Die, die schon im Mark aufgestellt waren, profitierten vom Wachstum im Segment. Allein optisch sah man in den Ballungsgebieten immer mehr Fahrzeuge mit den Namen der großen Anbieter herumfahren.

Was auffiel: Auch, wenn sich in Deutschland Amazon eher seitwärts bewegt hat, ging es mit dem Segment insgesamt weiter. Die hohe Wiederkaufquote, der hohe Grad an Personalisierung – Diese strukturellen Faktoren führten 2019 zu einer guten Entwicklung für die Marktteilnehmer.

Dann kam Corona.

Alex: Sachte, sachte! Wo lag man dann volumentechnisch 2019?

Udo: 1,5 bis 2 Milliarden je nach Quelle und Berechnungsart. Das waren in Deutschland 1%-2% des Marktes – eine kleine Basis, also, aber mit 20% Wachstum im Schnitt. Was man zudem leicht aus dem Auge verliert: In Deutschland konzentriert sich das Wachstum im Segment immer mehr auf die zehn größten Ballungsräume. Die Hälfte vom Land wird noch nicht von den Anbietern abgedeckt. Die Zahl der Paketdienstleister, die Essen verschicken, geht sogar immer weiter zurück. In den Städten sieht es anders aus. Mittlerweile nach Corona hielte ich beispielsweise im Kölner Lebensmitteleinzelhandel einen geschätzten Online-Anteil von 4%-5% für realistisch.

(In Deutschland ginge es nicht so schnell wie etwa in den Niederlanden oder UK und Frankreich, wo Online-LEH-Anteile vielerorts bereits bei 10% lägen, was teilweise rein geografische Gründe habe: Dichtbesiedelte Flächen und riesige Großstädte wie London oder Paris gebe es hierzulande weniger. In Deutschland werden Städter von einem wachsenden Angebot profitieren und das Wachstum treiben, während etwa eine junge Familie in der Uckermark noch 10 Jahre selber in den Verbrauchermarkt wird fahren müssen. Zumal Angebote wie Amazon Pantry in Deutschland wieder eingestellt wurden.)

11:20

Alex: Picnic rollt Deutschland ja vom Westen her auf. Hast du mit einem Supermarktbetreiber in der Nähe von Neuss und Umgebung gesprochen? Merken sie, dass da jetzt ein Lieferdienst ist?

Udo: Nein, aber was man machen kann: Gucken, wie viele Super- und Drogeriemärkte es etwa in Mönchengladbach Stand Heute gibt – und wie viele es in paar Jahren noch gibt. Denn meine These ist: Sobald der Online-Anteil an die 10% kratzt – was in Mönchengladbach, wo Picnic schon angefangen hat, bereits heute der Fall sein könnte – machen die ersten stationären Flächen zu. Eine andere schöne Beispielrechnung wäre Flaschenpost in Münster, wo sie vielleicht 30% Marktanteil haben und wo – da gehe ich jede Wette ein – die Zahl der Getränkeabholmärkte schon jetzt zurückgegangen sein wird.

Denn die Frequenz in den Märkten geht dadurch zurück. Mehr noch: Es wandern die ganz großen, attraktiven Warenkörbe ab. Es wird nur noch Laufkundschaft mit Mickey-Maus-Bons bedient. Die Kunden sind also nicht ganz weg, aber schrittweise setzt die Kannibalisierung ein. Noch ist es nicht in der Fläche so weit. Aber in Städten, wo bereits irgendwo ein hochautomatisiertes Lager für den Online-LEH in Betrieb gegangen ist und Penetration hoch ist, müsste das Wachstum der stationären Filialen zurückgehen.

Alex: Du bist ja zum ersten Mal bei mir hier in der Spitalerstraße zu Gast. Gucken wir aus dem Fenster: Viele Textilanbieter, obwohl Online-Anteile im Modehandel bereits zweistellig sind. Gut, jetzt brechen die Dämme – aber erst jetzt wohlgemerkt. Warum wird sich das im LEH schon vor der 10%-Marke bemerkbar machen?

Udo: Vor einigen Jahren hatte ich eine Studie von Morgan Stanley in der Hand, die sich mit UK auseinandersetzte. Feststellung: Das stationäre Geschäft bei Vollsortimentern ist stark Fixkostenbetrieben – also Miete, Personalkosten. Ergebnis: Das lohnt sich sehr schnell nicht mehr – bereits ab Online-Anteilen von 12% – und schon damals stiegen die Quadratmeterzahlen im UK nicht mehr an. Wenn ich also höre, dass Picnic in einer Stadt schon 5% hat und sehe, dass das auch Rewe online aktiv ist und vielleicht Amazon dazu…

(Sofort dichtmachen und schließen werden Supermarktketten aber nicht. Das wird eher wie bei Douglas aussehen, so Udo, wo Jahre lang die Frequenz zurückging und die Läden nicht schnell genug geschlossen wurden. Alex schlägt vor, Innenarchitekten, die für Rewe und Edeka tätig sind, zu ihrer Auftragslage auszufragen.)

15:15

Alex: Wie haben sich denn aus deiner Sicht die schon bestehenden Anbieter während Corona geschlagen? Selbst in Segmenten, die deutlich etablierter sind, konnte man nämlich die Nachfrage nicht voll ausschöpfen. Sogar Amazon stieß an Logistikgrenzen…!

Udo: Rein statistisch sieht es wohl so aus, dass das Segment E-Food im zweiten Quartal mit 89% gewachsen ist – gemessen am gleichen Quartal im Vorjahr. Das ist riesig im Vergleich zum üblichen Knappen-20%-Wachstum. Das wird sich in den Jahreszahlen 2020 natürlich bemerkbar machen.

Aus Kundensicht war es ja so, dass es monatelang keine Lieferslots gab. Als Neukunde musste man warten. Bei Rewe waren die Termine für die kommenden 14 Tage immer vergeben. Sämtlich Online-Werbung für E-Food wurde eingestellt und die Kosten der Kundenakquise im E-Food sind wahrscheinlich das erste Mal auf Null gesunken. Aber gleichzeitig schossen die Kosten für Fulfillment und die letzte Meile durch die Decke, weil man versucht hat, schnell neue Kapazitäten aufzubauen. Es war im Prinzip die Hölle los.

Ich nenne mal paar Beispielzahlen. Ein kleinerer Anbieter wie Food.de verzeichnete 25% mehr Neukunden pro Woche als sonst. Ocado ließ wissen, es hätte 100 mal mehr Traffic gehabt. Kunden durften zweitweise nicht mehr als 50 Artikel bestellen. Amazon sagte, es habe 160% mehr Umsatz im Vergleich zum Vorjahr gegeben. In USA war das wohl so, dass vielerorts die Neukundenaufnahme eingestellt wurde und die Warenkorbgröße auf $600. Letzteres passierte deswegen, weil jeder, der einen Lieferslot hatte, ist zu seinen Nachbarn gelaufen: „Kann ich dir nicht was mitkaufen?“ Die Händler hatten alle keine Logistikkapazität mehr. Es war wie Weihnachten, Silvester und Ostern an einem Tag!

Das hat es übrigens interessanterweise schon einmal gegeben. Während der SARS-Epidemie 2003 schaffte in Singapur ein Online-Lieferdienst den Durchbruch. Das hat sich als Blaupause erwiesen, für das, was wir 2020 gesehen haben.

(Im E-Food gelte zudem die Daumenregel, das der Neukunde nach drei Einkäufen das System verstanden habe. Jeder, der danach bleibt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Stammkunde. Selbst bei konservativ gerechneten Wiederkaufsintervallen von sechs Wochen laufe die Pandemie schon lange genug, dass viele in der Neukundenkohorte bereits dreimal bestellt haben werden.

Udo schiledert näher, wie die einzige Wachstumsbegrenzung in den Kapazitäten lagen. Bekannte von ihm, die im E-Food arbeiten, seien monatelang nicht einmal ans Telefon gegangen. Strukturell schlanke Modelle waren weniger durch Logistikengpässen eingehegt und wuchsen ungebremst – wie etwa Instacart in USA, über die Kunden eine Einkaufshilfe buchen, die online bestellte Produkte im örtlichen Supermarkt einkauft und ausliefert, legt um 400% zu. Erwerbslose, die froh waren, arbeiten zu dürfen, gab es pandemiebedingt in den USA genug und einer besonderen Schulung bedarf es ja nicht, um für jemanden einkaufen zu gehen. Auch Amazon hat dort 170.000 neue Mitarbeiter einstellen können.)

22:30

Alex: Es sind also einige Jahre in Monaten übersprungen wurden. Wir sitzen hier schon im Update für 2024 nach ursprünglicher Zeitrechnung! Hat sich das Verhalten der großen Lebensmittelhändler hierzulande geändert?

Udo: Die, die schon ein Chip im Spiel hatten, konnten sich die Hände reiben: Rewe ist ja schon online aktiv, Edeka hat sich an Picnic und Bringmeister beteiligt. Sie müssen ja nur schneller skalieren. Und die, die noch nichts haben, können das nicht mehr rechtfertigen. Selbst Douglas und Rossmann haben ja mittlerweile Click-&-Collect eingeführt. Also haben einige – wie Kaufland mit Real – jetzt dazugekauft. Andere haben Teams aufgestellt und legen auf dem langen Weg zum eigenen Plattform los.

Alex: Bleiben wir bei Kaufland und Real. Die Schwarz-Gruppe hinter Kaufland hat den Real.de-Marktplatz gekauft, der ja wiederum vor einigen Jahren von Real dazugekauft worden war – Er firmierte früher unter „Hitmeister“. Was hältst du davon?

Udo: Es hat mich nicht so sehr überrascht. Die Diskussion um einen Verkauf gab es ja bereits und andere mögliche Käufer hatten schon eigene E-Commerce-Teams – Lidl hat bereits 2.000 Leute und eine Milliarde Non-Food-Umsatz online. Aber Kaufland hatte da noch nichts. Zur Erinnerung für jüngere Hörer: 2017-18 hatte Kaufland schon einen ordentlichen Anlauf auf E-Food in Berlin genommen, um sich danach wieder aus dem Markt zurückzuziehen. Grund: Management. Also standen sie wieder bis auf eine Branding-Website ohne Auftritt da.

Alex: Da kann man getrost von „Management-Versagen“ sprechen.

Udo: Sie haben sich jetzt bestimmt geärgert, weil sie sonst genauso wie Rewe am pandemiebedingten Wachstum hätten partizipieren können. Was sie mit Real.de gekauft haben, ist ein eingespieltes Tech-Team und eine funktionierende Plattform. Sie haben auch jemanden dazu bekommen, der mit Rebranding umgehen kann – was wichtig ist, weil aus Hitmeister wurde Real.de und aus Real.de soll ja Kaufland.de werden! Wenn wir jetzt eBay und Rakuten, das eh nicht mehr so stark ist, ausklammern, handelt es sich um die Nummer Zwei oder Drei der Marktplätze in Deutschland. Damit haben sie also eine – entschuldige – „reale“ Option, einen Vollsortimenter im Bereich E-Food aufzubauen. Mindestens können sie als Marktplatz es anderen erlauben, Lebensmittel dort zu verkaufen und vielleicht selber einzelne, eher haltbare Artikel wie Spirituosen und Gewürze listen. Sie holen dadurch jedenfalls gewaltig auf und haben jetzt eine technologische Plattform, die Edeka, ALDI, Globus oder Rossmann in der Form nicht haben.

Alex: Einspruch! Was Real.de nicht mitbringt – und was Kaufland nicht hat – ist Logistik: keine Lieferflotte, kein Fulfillment.

Udo:Das stellt langfristig kein Hindernis dar, wenn Kaufland expandieren will. Das können sie dann aufbauen. Das Wichtigste ist eben die mit diesem schlauen Zukauf erworbene Kompetenz.

(Danach fragt Alex Udo zur Entwicklung bei Ocado in Großbritannien. Dort habe sich das Wachstum coronabedingt „nur“ verdoppelt auf 27%. Grund dafür sei die hohe Auslastung der überlegenen aber starren Ocado-Infrastruktur. Daraufhin geht Udo wie in einem vorigen Podcast auf das zunehmend Geschäftsmodell von Ocado als Dienstleister ein, der neben den eigenen E-Food-Betrieb seine Hard- und Softwarelösung an andere Anbieter international lizenziere – unter anderem an Carrefour in Frankreich. Danach beschreibt er das neue Schnelllieferkonzept Ocado Zoom, das den Einkauf binnen 60 Minuten an die Kunden bringt. Alle Anbieter versuchten ja gerade, Lieferzeiten zu verkürzen, da das die Konversion erhöhe. Es sei übrigens interessant, dass Ocado schon in Frankreich, USA und vielen anderen Märkten sein Hard- und Software-Paket verkauft habe – nur in Deutschland nicht.

Von Großbritannien geht es dann nach USA. Udo gibt eine Kurzfassung der derzeitigen E-Food-Marktteilnehmer dort: neue Konzepte wie Instacart und Shipt; klassische Vollsortimenter mit eigenen Strukturen wie FreshDirect oder Peapod; und die Giganten Amazon, das Wholefoods gekauft hat, Kroger, sowie Walmart. Letztere baue gerade emsig Kompetenz und Infrastruktur auf.)

34:10

Alex: Setzen wir den Fall, du bist eine große stationäre Lebensmittelhandelskette und entscheidest dich gerade, welchen Weg ins E-Food du nehmen willst. Was würdest du tun? Erst einmal kleinteilige Logistik aufbauen – etwa wie Picnic mit kleineren Hubs und Elektrofahrzeuge – oder Richtung Ocado und Rewe gehen mit Investitionen in große vollautomatisierte Lager?

Udo: Schwer zu sagen. Ich glaube, das hängt vom Ambitionsniveau ab. Wem es klar ist, dass der mit einem eigenen Vollsortiment ein großer Online-Anbieter sein will, baut in house alles auf und errichtet bald sein vollautomatisches Lager. Wer sich Schritt für Schritt heranarbeiten will – vielleicht erst einmal in einem kleinen Testmarkt – kann es richtig sein, erstmal klein anzufangen. Über kurz oder lang treffen sich allerdings beide Wege: Ab einer bestimmten Größe kommt man allein aus Kostengründen – Stichwort: unit economics – nicht mehr um ein automatisches Lager drum rum. So hat Picnic für rund 200 Millionen Euro in den Niederlanden sein erstes solches Lager in Bau genommen – und zwar mit einem externen Partner, weil sie da noch kein eigenes Knowhow haben. Da stellt das Rundum-Sorglos-Paket von Ocado ist also wahrscheinlich für den einen oder anderen Anbieter, der noch nicht aufgestellt ist, einen guten Weg dar, paar Jahre zu überspringen.

Einziger Haken an der Sache: Man braucht anfangs Auslastung. Und Auslastung kommt nur über Kundeakquise und -pflege. Es ist ja nicht so, dass man etwa als Edeka am 1. Januar – sagen wir mal –  hier in Hamburg ein Fulfillment-Center mit einer Kapazität von 100 Millionen Euro hinstellen und bis zum 5. des Monats schon 80% Auslastung erwarten kann. Insofern war es beim Gang in den deutschen Markt von Picnic wahrscheinlich ganz klug zu sagen: „Ich kauf‘ mir erstmal so ‘ne abgerockte Lagerhalle von Tengelmann da in Viersen und mache zwei, drei Hubs drum…“ Die Automatisierungstechnik kommt dann im nächsten Schritt.

37:45

Alex: Mitten in der Corona-Krise ging in Berlin ein Unternehmen an den Start, dass noch mehr asset-light unterwegs ist…

Udo: Gorillas. Das ist ein Tech-Start-up und noch sehr klein, hat aber eine ganz interessante Einstellung. Sie sitzen in Prenzlauer Berg – also im am dichtesten besiedelten Bezirk von ganz Deutschland – und haben einen Einzugsgebiet von 3×3 Kilometern. In diesem Gebiet beliefern sie Kunden mit 1.500 bis 2.000 Basics wie Bier, Butter, Bananen innerhalb von… Trommelwirbel… 10 Minuten! Mit dem Fahrrad und aus eigenen kleinen Lagern.

Alex: Wie geht denn das?

Udo: Nehmen wir dieses Studio und setzen wir mal voraus, es wäre eine Kühlzelle. Verdoppeln wir den Platz und nehmen wir mal an, ich habe von jedem Artikel nur 5 bis 10 Stück. Dann kann ich hier bis zu 2.000 Produkte vorrätig haben.

Der Trick liegt darin, wie schnell derjenige im Lager die fünf, sechs bestellte Artikel kommissionieren kann. Die Lieferung muss ja auch halbwegs gut verpackt sein: Die Eier dürfen ja nicht kaputtgehen und die Bananen sollen nicht gedrückt werden. Nach Übergabe an den Fahrradkurier verbleiben diesem dann fünf Minuten, um anderthalb Kilometer zurückzulegen, in vierten Stock im Hinterhof zu gelangen und dem Kunden das Ganze zu übergeben zu mit dem Supermarkt konkurrenzfähigen Preisen zuzüglich Liefergebühr 1,80 €.

Fazit: Superschnelle Lieferung gibt brutal hohe conversion rates. Aber ob sich das wirtschaftlich rechnet, steht auf einem anderen Blatt. Legt doch der Fahrradkurier zu jedem einzelnen Kunden los, macht keine Touren, nimmt nichts mit zurück – zu einem Mindestbestellwert von 10€ oder 15€. Da stelle ich ein Fragezeichen hinter! Das schaffen sie zwar gut in Prenzlauer Berg. Skalierbar ist es aber insofern nicht, als sich der Kurier in Außenbezirken wie Reinickendorf totfahren würde.

(Vorlage für diese app-only-Lösung sei Gopuff aus USA, so Udo, dass in verschiedenen Ballungsgebieten dort einen ähnlichen Service anbieten. Warum, müsse man sich die Frage stellen, haben das Lieferando & Co. die letzten zehn Jahren nicht mit angeboten, wo sie schon fertiges Essen schnell ausfahren. Weil es sich wirtschaftlich nicht lohnt. Alex ist fasziniert und vermutet eine Ratio dahinter, die nicht auf dem ersten Blick ersichtlich ist. Die Gorilla-Gründer dürften sich gern bei ihm für einen Podcast-Auftritt melden!

Der Trend gehe also zu immer schnellerer Lieferung? Udo bejaht. Bei AllyouneedFresh, wo er früher tätig war, habe er gesehen: Je weiter der Cut-Off für Bestellungen an die Lieferung heranrückte, desto mehr stieg die Konversion an – und zwar nicht linear, sondern exponentiell. Deswegen arbeite zum Beispiel Rewe daran, mit einem neuen Lager in Berlin „bis Mittag bestellt, abends geliefert“ anzubieten. In Köln sei es beinahe schon so weit. Bringmeister biete das schon an. Amazon gehe auch immer mehr in Richtung Same-Day-Delivery; und ZalandoPlus biete bis zum selben Abend geliefert… Alle zögen dann nach.)

45:45

Alex: Jetzt zum Kassenzone-Liebling Picnic. So nach zwei Jahren: Wie beeindruckt bist du?

Udo: Es geht ganz gut voran. Sie haben mittlerweile zwei große Hubs in Deutschland, womit sie 14 Städte beglücken, die alle in Nordrhein-Westfalen liegen. Sie sind ins Ruhrgebiet, fast bis nach Essen vorgerückt. Und in Essen liegt die Zentrale eines gewissen Discounters. Vielleicht fahren sie also demnächst dreimal am Tag an Aldi vorbei… Ob das doch nicht Aldi dazu bringt, etwas im E-Food zu unternehmen?

Alex: Schönen Gruß an dieser Stelle an die Zuhörer von Aldi!

Udo: Und überlege dir mal, was noch für Potenzial in Deutschland für Picnic vorhanden ist.

Alex: Ich wundere mich ja immer noch, dass es nicht schon viele Imitate gibt. Ich meine, mit Investorengeld könnte man schnell eine copy cat in Ingolstadt oder sonst wo aufstellen. Oder in einem ganz anderen Markt wie etwa Polen.

Udo: In der Schweiz gibt es Miacar von Migros, wo einige Picnic-Elemente wiederzufinden sind. Auch zwischen Flaschenpost und Picnic sehe ich gewisse Parallele: eigene Flotte, app-only, gute predictive software usw. Es zeigt sich aber, dass sich ein Picnic so leicht nicht nachbauen lässt. Man kann eben nicht in den nächsten Baumarkt fahren und sagen: „Ich hätte gern einmal ein Fulfillment-Center, einmal Automatisierungstechnik – und geben Sie mir bitte den prädiktiven Routenplaner mitdazu!“ Dann brauche ich noch meine 50 Leute für den E-Commerce-Team, ich brauche Coder usw.

Alex: Ob Picnic wohl auf die Idee kommt, das wie Ocado als Paket anzubieten…? Aber jetzt eben zu Flaschenpost: 100 LKWs am Tag, 7.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Was hältst du denn davon?

Udo: Super Erfolgsgeschichte in der scheinbar unattraktiven Nische Getränkelieferung! Auf dem ersten Blick: schwer, sperrig, preislich umkämpft, Neigung zu commodity-Charakter. Hut ab, also, dass sie die Lücke entdeckt haben. Dieses Jahr wollen sie auf die 200 Millionen Umsatz gehen und haben starke Wachstumspläne in Deutschland.

Ich bin übrigens letzte Woche persönlich von DurstExpress zu Flaschenpost in Berlin gewechselt. Und – ungelogen –meine Bestellung war in 14 Minuten nach Aufgabe da. Gut, sie sind erst letztens da gestartet und noch nicht voll ausgelastet. Interessant war aber, dass, wo andere Anbieter „Wir liefern in soundso vielen Stunden“ sagen, sagt Flaschenpost: „Du kannst dir deine Getränke innerhalb von 120 Minuten liefern lassen – oder dir einen Lieferslot auswählen.“ Das ist natürlich deutlich genauer.

(Alex fragt Udo, ob der trotzdem keine Risiken für Flaschenpost sehe. Schließlich seien Cola, Bier & Co. nicht gerade hochpreisig und böten wenig Möglichkeiten zu Upselling. Udo weist auf die langsam weniger werdenden geeigneten Städtestandorten hin. Dessen sei sich aber ihm zufolge Flaschenpost bewusst und ziehe eine Expansion in europäische Nachbarländer als Wachstumsperspektive in Betracht. Außerdem sei Udo davon überzeugt, dass sie – wie Picnic – zunehmend Automatisierungstechnik einführen werden. Ein großes Risiko allerdings: Wenn sich Picnic oder andere Vollsortimentanbieter in Ballungsräumen etablieren, werden sich einige Kunden fragen, wozu extra einen Getränkedienstleister zu beauftragen. Die Frage wird sein, ob die Sortimentstiefe von Flaschenpost – bis zu 2.000 Artikeln – den rund 450 bei Picnic verfügbaren Getränken gegenüber einen hinreichenden Mehrwert darstelle.)

56:45

Alex: Wir haben eine sehr relevante Zuhörerfrage reinbekommen: Wie sieht es mit dem CO2-Abdruck von E-Food aus? Schließlich fahren die meisten Dienste noch nicht mit Elektroautos. Das Argument habe ich immer so gesehen: Der Kleinlaster von DHL, der von MediaMarkt aus losfährt und Elektrogeräte an 50 Kunden verteilt, spart 50 Fahrten zu MediaMarkt. E-Commerce ist also – vollkommen unabhängig vom Antrieb – effizienter. Wie schätzt du das im Online-LEH ein?

Udo: Früher hat der Kunde samstagvormittags mit Mutti und Kind die Verbrauchermärkte abgefahren, um einzukaufen, wo gerade Sachen im Angebot waren. Wenn er das von zu Hause aus bestellt und es fährt ein Zustellfahrzeug vom Lager zu ihm nach Hause, könnte man sagen: Ist egal, wer zu wem fährt. Man kann aber auch sagen, dass die ganze Flotte von Picnic elektrisch fährt; auch Amazon hat angekündigt, 1.000 Elektrofahrzeuge in Deutschland anzuschaffen. Da kann also eine Menge eingespart werden. Zumal der stationäre LEH meistens ein mehrstufiges System ist: Zentrallager zu Zwischenlager zum Supermarkt und dann zum Kunden. Im E-Food gibt es meistens nur ein großes Zentrallager.

Ein sehr wichtiger Punkt, der auch durch Zahlen belegt werden kann: Bei E-Food fällt viel weniger Abfall an. Es wird kaum verderbliche Ware weggeschmissen – unter 1% –, weil die Anbieter viel besser im Voraus wissen können, was gekauft wird. Im Supermarkt stapeln sich oft unverkaufte Sachen. Vor allem bei Obst und Gemüse muss bis zu 10% entsorgt werden. Bei Ocado ist „waste“ sogar eine KPI im Jahresbericht. Picnic spricht von „zero waste“, was vielleicht leicht übertrieben ist. Jedenfalls: weniger weggeschmissen, weniger CO2.

1:00:45

Alex: Jetzt nach vorne: Gewinner-Verlierer Ausblick aus deiner Sicht?

Udo: In der unmittelbaren Zukunft werden sich Picnic, Rewe und Amazon In Deutschland gut entwickeln – plus Edeka dank den Picnic- und Bringmeister-Beteiligungen. DM wird ebenfalls zu den Gewinnern gehören: Sie haben angeblich schon 100 Millionen Umsatz online mit einem Lage in Tschechien, das den deutschen Markt versorgt.

Im Umkehrschluss sieht es schlecht aus für alle, die noch gar nichts haben oder nur kleine Anfänge gemacht haben. Es ist gerade viel Rückenwind, den sie nicht mitnehmen können.

(Udo listet die Kandidaten auf: Aldi, das in Deutschland noch nichts online habe; Lidl, das zwar mit Non-Food vertreten sei und Tech-Fähigkeiten habe, aber noch nicht als Vollsortimenter aktiv; Rossmann, das ebenfalls noch nicht die derzeitigen Chancen nutzen kann.

Zum Schluss geht es um den Ausblick generell. Amazon Fresh bewege sich in Deutschland seitwärts, so Udo, werde aber bestimmt bald mehr Ressourcen in den Ausbau der Versorgung hierzulande stecken. Auf jeden Fall dürften sich deutsche Kunden in Ballungsräumen auf mehr Angebote von mehr Unternehmen freuen – vor allem in nicht so ganz großen Städten wie Nürnberg, Stuttgart und Hannover. Und für die etwas fernere Zukunft sei das Thema autonomes Fahren spannend. Man stelle sich vor, 2025 fährt so ein Mini-Fahrzeug von Amazon unten in der Spitalerstraße vor und Alex könnte mit einem aufs Handy geschickten Code die Klappe öffnen, seinen Einkauf rausnehmen und seine Pfandflaschen reingeben, bevor der Roboter zum nächsten Lieferpunkt weiterfährt…)

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