Jochen Krisch hat in den letzten Tagen wiederholt beschrieben in welchem Dilemma sich der stationäre Handel befindet. Anstatt radikal vom Kunden zu denken, werden teure & komplexe Multichannel Strategien verfolgt. Eine der aus meiner Sicht unsinnigsten Blüten dieser Entwicklung sind sogenannte Click und Collect Konzepte. Zu diesem Thema hat mich Rahel Willhardt für das Magazin Handelsimmobilien heute befragt. Sie hat die einzelnen Argumente sehr leserfreundlich sortiert und in Vorbereitung meines kleinen Streitgespräches auf der NEOCOM im Oktober, will ich euch meine Click & Collapse Argumente nicht vorenthalten.
Herr Graf, Sie sind bekennender Click & Collect (= C&C) -Skeptiker, wieso?
Nüchtern betrachtet vereint es das schlechteste beider Welten: Ohne Waren zuvor probieren zu können, muss der Kunde sie selbst abholen. Für Anbieter klingt es attraktiv, Versand- und Rücksendekosten zu sparen, Zusatzkäufe auszulösen und mehr Besucher in den Laden zu lotsen. Aber was ist der Kundennutzen? Erfahrungsgemäß setzt sich im digitalisierten Handel aber nur das durch, was es für Konsumenten bequemer macht.
Ist C&C hierzulande „Etikettenschwindel“, wie Internetexperte Professor Gerrit Heinemann behauptet?
Damit spielt er auf die mangelhafte Umsetzung an. Was Händler Kunden bieten wollen und was ihre Datentechnologie faktisch hergibt, steht oft im unfassbaren Widerspruch – entsprechend desaströs ist das Nutzererlebnis! Reibungsloses C&C erfordert in Realzeit synchronisierte Warensysteme. Die Praxis ist von 80er-Jahre-Technik dominiert, die weder erforderliche Stammdaten noch minutengenau Up-Dates vorhält. Wo die technische Basis fehlt, wird Etikettenschwindel betrieben.
2014 testete Internet Business Word C&C zehn große Filialisten. Ihr Fazit: Bis zu 3,5 Tage Bearbeitungszeit, zeitraubendes Suchen oder Warten und zuweilen „Portogebühr“… Kann die miserable Umsetzung nicht auch Ursache für fehlende Kundenakzeptanz sein?
Die Studienergebnisse lese ich als Hinweis dafür, dass die Einführung von C&C extrem schwierig ist. Getestet wurden ja keine unbedarften Krauter sondern Handelsprofis. Nein, die Ergebnisse sind Wasser auf meinen Mühlen, dass C&C komplex und entsprechend kostspielig ist. Soll es sich bezahlt machen, muss der generierte Mehrumsatz das Investment toppen. Der Beweis dafür steht aber aus meiner Sicht noch aus.
Digitale Innovation sind bei der Einführung meistens ein Hype mit überzogenen Erwartungen – erst nach der Enttäuschung und dem Nachbessern erreichen sie Produktivität … Wo befindet sich C&C? Wie wird es sich entwickeln?
Ob große Kaufhäuser oder vertikalisierte Ketten – Vorreiter stiegen aus oder sind gerade dabei. Der Markt hat bislang gezeigt: C&C hat nicht die Kraft, den Trend zum Onlinekauf umzukehren und die Kunden „zurückzuholen“! Investiert man 50 Prozent seines Budgets in so eine Technologie, gewinnt aber nur 2 Prozent Kunden zurück, überzeugt die Strategie nicht.
Niemand kann voraussehen, wohin sich die Onlinewelt morgen entwickelt! Was Händler wappnet, mit der Entwicklung Schritt zu halten, ist die Fähigkeit, stetig auszuprobieren. Wer schneller und billiger experimentiert als andere, hat die Nase vorn.
Aber was ist mit den diversen Erfolgsbeispielen? Mit ’Saturn Connect’ etwa entwickelte der Elektrohändler kleine, 480 qm-Läden, in denen Online-Angebote die Regale auf 250.000 Produkte verlängern. Jede zweite Onlinebestellung soll hier vor Ort abgeholt werden. Ist das Propaganda?
Die Zahlen sind noch kein Jahr alt. Sie sind zu jung, um in sie Erfolg hineinzuinterpretieren. Und sie sind undifferenziert: Um welche Geräte, Sortimente und Zielgruppen handelt es sich? Sind die Raten stabil? Gibt es Wiedernutzer? Erreicht man neue Kunden?
Nachvollziehbar ist, dass die Eröffnung kleiner Läden zu höheren Onlineumsätzen in der Region führt – das Phänomen ist seit Cyberport bekannt. Entscheidend ist aber die Frage: macht der Abholservice das Gesamtsystem profitabler? Uns bekannte Branchenzahlen sprechen dagegen: Zusatzkäufe sieht man bei Consumer Electronics fast nie. Und oft versichern sich Internetunerfahrene mit der Abholung rück. Das spricht dafür, dass C&C eine Übergangstechnik ist, die Online-Konvertierung fördert, sobald Kunden Vertrauen gefasst haben.
Douglas schwärmt von sprunghaft angestiegenen Abholungen seit sie C&C besser vermarkten und die Vor-Ort-Zahlung zulassen. Zahlen nennt die Parfümerie leider keine. Aber warum klappt hier offensichtlich, woran andere Händler scheitern?
Parfüm ist ein sinnliches Produkt, entsprechend sinnvoll ist der Kauf im Laden. Aber ohne konkrete Zahlen kann man nur spekulieren. Vielleicht wollen Kunden das Produkt sofort, wollen Leergänge vermeiden, sich attraktive Angebote sichern – oder der Händler hilft mit Extraanreizen wie Gutscheinen nach. Bei großen Warenkörben etwa kann es für Anbieter lohnenswerter sein, Kunden mit 10 Prozent Rabatt in den Laden zu lotsen als Retouren abzuarbeiten.
Das britische Kaufhaus John Lewis gilt als Onlinevorreiter. Mittlerweile spricht das Unternehmen von 6 Millionen C&C-Bestellungen, 11 Prozent Wachstumsquote und verlangt seit 2015 zwei Pfund für Abholungen unter 30 Pfund.
Das sind imposante Zahlen, die aber ohne Details nicht zu beurteilen sind: Was macht die C&C Bestellung attraktiv? Sind es die für Möbel oft teuren Versandkosten? Gibt es Anreizstrukturen wie Rabatte? Waren die Käufer vorher schon Kunden und bestellen nun online vor? Was wäre, gäbe es C&C nicht? Wären alle 6 Mio. fürs Unternehmen verloren oder nur eine halbe Million? Erst wenn man Umsatz und Kosten ins Verhältnis setzt, zeigt sich, ob der immense Aufwand betriebswirtschaftlich lohnt.
Ernsting’s Family veröffentlichte Anfang 2015 Pick-up-Raten von 80 Prozent und 30 Prozent Zusatzkäufe.
Bei Ernsting’s muss man folgendes sehen: Die Mode ist preissensibel, das Sortiment eigenmarkendominiert und einige Produkte sind ausschließlich Online erhältlich. Wer sie im Laden abholt, spart das Porto von 4,90 Euro. Bei Warenkörben im Bereich 10-30 Euro ist das immens. Und weil die rund 1800 Filialen oft in Nahversorgungszentren liegen, lässt sich der Weg bequem mit täglichen Besorgungen verbinden.
Zweitens sind Zusatzkäufe sortimentsabhängig. Mode wird impulsiv gekauft, da sind höhere Bons realistisch. Bei eher rational gesteuerten Produkten wie Consumer Electronic ist das Abholen und Verschwinden eher die Regel.
Drittens scheint das Geschäftsmodell gesund, da es exklusive Produkte zu attraktiven Preisen bietet. In vielen Fällen ist es genau umgekehrt. C&C soll den fehlenden USP des Geschäftsmodells heilen. Genau das funktioniert nicht. Den meisten Händlern bricht nicht die fehlende technische Exzellenz ihrer Webseite das Genick, sondern fehlender Kundennutzen – das Internet beschleunigt die Selektion.
Das durchweg kundenorientierte Amazon erprobt unterdes fußnahe Paketstationen mit Produkten, die laut Big-Data bald bestellt werden. Sieht man vom 24-Stunden-Zugang ab, was unterscheidet das vom gut sortierten Händler mit C&C?
Erstmal stehen die kompakten Container in Wohngebieten. Der Kunde kommt also schneller ans Produkt, als im Parkhaus zu parken und einmal durch den Saturn zu hechten. Kleinere Händler hingegen können mit der Sortimentsauswahl nicht mithalten.
Außerdem hat Amazon einen mächtigen Datenvorsprung: Sie wissen genau, welche Kategorien dominant, welche Produkte Topseller sind und was die Nachfrage beeinflusst. Und durch die Masse an Bestellungen können sie Abverkäufe steuern: Wählt ein Kunde einen anderen Kopfhörer als den „Bestseller“, wird der mit dem Hinweis angezeigt: In 50 Metern abholbereit, gleicher Preis! So bekommt der Kunde sofort und bequem, was er wollen soll.