EisbergSeit Monaten plane ich nun schon diesen Beitrag zu schreiben. Jede Woche gibt es spannende neue Berichte über das Amazon Geschäftsmodell, über neue Services, Amazons Fehler und vieles mehr. Kein Unternehmen beeinflusst zur Zeit auch nur annäherungsweise das Handelsgeschäft der westlichen Welt wie Amazon. Mein Anspruch für diesen Artikel war ein vollständiges Bild über Amazon zu zeichnen, um Missverständnisse auszuräumen, allerdings musste ich in den letzten Wochen einsehen, dass das nicht möglich ist, weil Amazon wirkt wie ein schnell wachsender Eisberg. Hin und wieder blitzen andere Teile über der Wasseroberfläche über die man sich eine Meinung bilden kann, aber das große Ganze ist schwer zu erfassen. Deshalb bleibt es hier nur bei einer Momentaufnahme, bei deren Erstellung meine Faszination zu Amazon nur noch größer geworden ist. Schauen wir uns doch mal die verschiedenen Eisteile an, die hin und wieder aufblitzen.

Der Profit

Amazon verdient kein Geld.” Das ist wohl das bekannteste Argument, um Amazons Geschäftsmodell zu kritisieren. Gemessen am Umsatz kann ein objektiver Beobachter durchaus zu dieser Schlussfolgerung kommen, weil das ausgewiesenen Nettoergebnis regelmäßig um die Nulllinie herum pendelt. Im letzten Quartal hat Amazon zu Erleichterung der Investoren mal wieder etwas Profit ausgewiesen, aber wer Grund zum Nörgeln sucht, wird auch daran etwas auszusetzen haben. Grundsätzlich mündet diese Diskussion oft in der ultimativen Frage, ob Amazon seinen Börsenkurs tatsächlich rechtfertigen kann. Ich selbst bin da bei Jochen Krisch, der Amazon gerade für sein Musterdepot analysiert hat und noch enorme Umsatzpotentiale sieht.

Aus unserer Sicht befindet sich Amazon derzeit an einem Wendepunkt, wo das Wachstum eher wieder zunehmen kann. Amazon hat gleich ein halbes Dutzend Businessbereiche, die in den kommenden Jahren abheben können. Wenn es nur zwei oder drei davon tun, wird Amazon in Umsatzdimensionen vordringen, die man sich heute so noch nicht vorstellen kann. Falls nicht, ist auf Fünfjahressicht nichtsdestotrotz mindestens eine Umsatz- und eine Kursverdopplung drin.

Das Umsatzpotential ist für erklärte Kritiker aber noch keine ausreichende Begründung, weil die sich an den Gewinnen orientieren wollen. Dazu kann ich nur auf die derzeit beste verfügbare Amazon Analyse hinweisen, die Benedict Evans im letzten September geschrieben hat. Darin zeigt er auf, dass Amazon seinen Cashflow optimiert und dieser ständig wächst. Jeder Euro wird in Wachstum investiert, solange sinnvolle Wachstumsbereiche identifiziert werden können. Der Vergleich mit der Metro Gruppe oder Walmart versus Amazon trägt vor allem deshalb keine Früchte, weil es vorher nie ein Unternehmen gab das so einer aggressiven Wachstumsstrategie gefolgt ist.

In any case, profits as reported in the net income line are a pretty bad way to try to understand a business like this – actual cash flow is better. As the saying goes, profit is opinion but cash is a fact, and Amazon itself talks about cash flow, not net income (Enron, for obvious and nefarious reasons, was the other way around). Amazon focuses very much on free cash flow (FCF), but it’s very useful to look also at operating cash flow (OCF), which is simply what you get adding back capital expenditure (‘capex’).

cashflow-amazon

In Kürze sagt die Analyse, dass Amazons Zugriff auf Cash analog zum Umsatz wächst und das Cash in Anlagevermögen investiert wird, das natürlich nach Investment zum Cash beiträgt. Die traurige Botschaft an die Amazon (und Zalando) Kritiker nach den Q4/14 Zahlen ist wohl lediglich, dass sie sich nun ein neues Beispiel für schlechte E-Commerce Geschäftsmodelle suchen müssen.

Sargnagel & Hoffnung für den stationären Handel

Wenn in irgendeiner Stadt mal wieder die Schaufenster lokaler Einzelhändler verhangen werden, um gegen den Onlinehandel zu protestieren, dann muss zwangsläufig Amazon als Sargnagel für den darbenden Einzelhandel herhalten. Dieser hat bis heute keine Antworten auf Pure Play E-Commerce Modelle gefunden und das liegt aus meiner Sicht nicht daran, dass er lahm und träge ist, sondern daran, dass es keine befriedigenden Antworten gibt. In der Evil Commerce Studie vom letzten April haben Holger und ich noch eher besänftigend argumentiert und Investitionen angeregt, aber auch die machen nur Sinn, wenn es eine nachvollziehbare Vision gibt. Da ich im ersten Punkt das Argument des “subventionierten“ (und damit endlichen) Wettbewerbsvorteils von Amazon widerlegt habe, stehen stationäre Händler vor folgender Herausforderung: E-Commerce ist für die meisten Produktgruppen die effizientere (billiger & schneller) und bessere (Auswahl & Service) Handelsform. Was kann man tun, um sein (betroffenes) stationäres Handelsgeschäft zu bewahren? Sehr wenig.

Extrem irritierend an dieser Diskussion ist die Tatsache, dass Amazon oder Zalando nun bei jeder noch so absurden Gelegenheit zu den Hoffnungsträgern des stationären Handels gemacht werden.

That’s the big question. Why take such a risk when there’s been so much success doing what the company does best? Amazon declined to comment for this article, but the company could follow in the footsteps left by the likes of clothier Bonobos Inc. and eyeglasses retailer Warby Parker as making jump from online to brick and mortar.

Gerade die Radioshack Pleite sollte doch Warnung genug sein für Amazon, sein margenarmes Handelsgeschäft eben nicht  auf teure stationäre Flächen zu verlagern. Benzinga sieht das anders:

Everyone Loves A Sale – This RadioShack rumor is sort of like Black Friday for Amazon. By taking the stores now, Amazon would receive a much better deal than if it waited to buy or build retail space in the future. „If they were going to buy them, this is going to be the time they’ll get a really good deal on them,“ Sean Udall, CIO of Quantum Trading Strategies and author of The TechStrat Report, told Benzinga. „They’re gonna be selling assets at bankruptcy/fire sale prices.“

Am kritischsten an dieser Diskussion ist für mich, dass „kleinen Händlern falsche Hoffnungen gemacht werden und so notwendige Investitionen oder das Hinterfragen der eigenen Strategie nicht stattfinden

Kino, Verlage, Mitarbeiter

Wenn sich der stationäre Handel gerade nicht beschwert, dann finden sich noch weitere kleine Spitzen über der Wasseroberfläche die je nach Jahreszeit (Weihnachten gehört dem stationären Handel) wechseln. Ganz vorne dabei ist sicherlich das Klagelied der Buchverlage, die sich von Amazon bedrängt fühlen und dafür auch noch viel Mitgefühl ernten:

If you haven’t been following the recent Amazon news: Back in May a dispute between Amazon and Hachette, a major publishing house, broke out into open commercial warfare. Amazon had been demanding a larger cut of the price of Hachette books it sells; when Hachette balked, Amazon began disrupting the publisher’s sales. Hachette books weren’t banned outright from Amazon’s site, but Amazon began delaying their delivery, raising their prices, and/or steering customers to other publishers. You might be tempted to say that this is just business — no different from Standard Oil, back in the days before it was broken up, refusing to ship oil via railroads that refused to grant it special discounts. But that is, of course, the point: The robber baron era ended when we as a nation decided that some business tactics were out of line. And the question is whether we want to go back on that decision.

Alleine diese Diskussion füllt tausende (Buch-) Seiten und einen richtigen Gewinnern gibt es dabei nicht. Es ist wie so oft, wenn lange bestehende Strukturen angegriffen werden: Die Angegriffenen haben keine Schuld. In den Diskussionen wird aber oft so formuliert, dass Amazon die “Zerstörung von Branche xyz” planen würde. Nichts gegen das strategische Geschick Amazons, aber das geht meines Erachtens zu weit. Sie sind halt Marktführer und Innovationsführer. Das gibt es in dieser Größenordnung sonst nirgends. Für Netflix mag Amazon so aussehen wie ein gefährlicher Gegner. Aus Amazons Sicht ist das Videoangebot aber erst einmal eine kluge Strategie, um Kunden noch stärker an sich zu binden. Das es ausgerechnet Videos dafür verwendet ist eher Zufall.

Amazon has poured a bunch of money into Prime Instant Video — $1.3 billion in fact — to try to make Prime more attractive. Prime members are believed to spend more than double what nonmembers do on the site. Now there’s some indication it might actually be paying off. For what it’s worth, this is not a winner-take-all situation. Plenty of people will subscribe to both Amazon and Netflix. But Amazon’s success in a relatively short period of time is something everyone in the TV/video industry should be watching.

Wenn sich kaum noch rationale Argumente finden, dann müssen oft die Mitarbeiter als Opfer der Amazon Strategie herhalten. Der Guardian hat 2013 eine lesenswerte Reportage zu den Realitäten eines Lagermitarbeiters geschrieben. Ich bezweifle, dass die Entdeckungen dazu beitragen Amazon zu beurteilen, aber Lagerarbeit scheint kein Zuckerschlecken zu sein.

„I’ve worked everywhere,“ a forklift truck driver tells me. „And this is the worst. They pay shit because they can. Because there’s no other jobs out there. Trust me, I know, I tried. I was working for £12 an hour in my last job. I’m getting £8 an hour here. I worked for Sony before and they were strict but fair. It’s the unfairness that gets you here.“

Wenn man aus diesem und ähnlichen Artikeln eines lernen kann, dann sicherlich, dass diese Art der Handelsoptimierung auf klassischen stationären Flächen niemals stattfinden kann. E-Commerce benötigt für viele Produktgruppen deutlich weniger Ressourcen, um die Ware zu verkaufen – inkl. Retouren, Lieferkosten usw. Das wird in Zukunft nur noch besser (für Amazon).

Der Herstellerschreck

Eine der spannensten Wandlungen macht Amazon gerade in der Zusammenarbeit mit den Herstellern durch. Bisher war Amazon für die meisten Hersteller der nette “Partner”. Innerhalb weniger Monate hat sich dieses Verhältnis gedreht und Hersteller suchen nach Strategien und Mitteln, um die “Seuche” Amazon wieder loszuwerden. Damit meine ich noch nicht einmal die zaghaften Eigenmarken, die Amazon bereits im Sortiment hat bzw. in weiteren Sortimenten aufbaut. Es geht vielmehr um das Gefangendilemma, in dem sich viele Hersteller befinden:

Das Optimum für alle Anbieter ist also den Verkauf an Amazon ad hoc einzustellen, aber aus einer individuellen Sicht ist der fortgesetzte Verkauf immer dominant.

Hersteller von Konsumgütern werden in einer Amazonwelt zu einfachen Gehilfen degradiert. Im Grunde genommen nutzt Amazon seine Position genauso wie sie es bereits im Verlagsgeschäft machen. Dazu gab es ein spannendes Portrait in der NYT im letzten Juli:

Amazon is now responsible for 72 percent of Rutgers’s e-book sales, and a third of its $3 million in annual revenue. If only the retailer were a little easier to deal with: At Rutgers, as with most presses, communicating with Amazon means communicating through a web interface. There is no sense there is a person at the other end.

Hoher Verhandlungsdruck, kein Ansprechpartner, Verlust der Preiskontrolle, fehlende Exit Strategie… das sind auch genau die Themen, die wir regelmäßig in kleiner Runde unter betroffenen Herstellern diskutieren. Fast alle DCDnet Termine dazu im ersten Halbjahr sind schon ausgebucht und die Rückmeldungen aus den Amazon Jahresgesprächen werden immer krasser. Im letzten Jahr hatten wir noch intensiv darüber diskutiert wie man aus dem Vendor Bereich in den Seller Bereich bei Amazon wechseln kann, um die EK Pricing Probleme zu umgehen. Mittlerweile wird offen darüber debatiert, wie man (schnell) komplett aus dieser Falle rauskommt. Das ist schon erstaunlich, weil bis vor wenigen Monaten/Jahren Amazon noch ein attraktiver Wachstumspartner war. ABER: Diese Strategie kann man Amazon nicht anlasten. Amazon ist ein Markt (-platz) und verfolgt seine eigenen Interessen einfach nur sehr stringent.

Die Strategie

Die vielen unterschiedlichen Sichtweisen zur Entwicklung von Amazon führen zu extrem widersprüchlichen Einschätzung zur “Amazon Strategie”. Jeder Marktteilnehmer hat einen anderen Blick darauf. Unbedarfte Beobachter bezeichnen die Strategie aufgrund der vielfältigen “Eisbergspitzen” als “irre” (FOCUS), während andere die Ableitung der Strategie anhand des Kundenbindungsprogrammes (Süddeutsche) bevorzugen. Der Economist hat gleich alle großen Anbieter (Facebook, Amazon, Google, Apple) in einen Topf gepackt und eine Art “Monopolstrategie” ausgemacht.

Part of what makes Amazon remarkable is that it has managed to keep itself in something like the early upswing of this trajectory for a peculiarly long time. It has never stopped investing heavily to reach scale, instead preferring to expand ever further the scale it aspires to reach. For the time being its investors remain willing to expect only growth, not returns—a patience which explains how Amazon has been able to build up an infrastructure, in terms of data centres and warehouses, that a rival would be very hard put to match. That said, even if there is no need to show profits, there is clearly a call for money made in the established bits of the business to fund growth in the newer parts. And some suspect the bully-boy tactics the company used against Hachette may be evidence that its shareholders are starting to get impatient.

Es ist extrem schwer die Strategie zu fassen. Marcel Weiss kommt bei neunetz zu dem Ergebnis, dass Amazons Erfolg in seiner Innovationsfreude bei gleichzeitig gigantischem Umsatzniveau begründet ist. Damit kann ich mich recht gut anfreunden, aber wahrscheinlich muss die Managementmatrix, in die Amazons heutige Strategie richtig einsortiert werden kann, erst noch erfunden werden. Was sich regelmäßig als fatal erweist, ist die klassische Positionierung von Amazon in Sortimente, Zielgruppen, Länder usw. Nur weil Amazon heute noch nicht in Polen verkauft, heißt das nicht, dass Polen ein zweitrangiger Markt ist. Der Blick vieler Manager geht oft in die Richtung was Amazon heute noch nicht macht. Die Otto Gruppe befand sich mal in so einer “Blickwinkelfalle”. Das hat die dgroup recht hübsch auf einem Chart beim letzjährigen Treffen der “Initiative Mittelstand und Markenhersteller” gezeigt.

otto-amazon

Mittlerweile sieht man das bei Otto sicherlich anders, aber dieses Chart könnte man auf sehr viele deutsche Handelsunternehmen übertragen. Einige “Möbler” sehen das heute genauso wie Otto 2002. Und fairerweise muss ich gestehen, dass ich 2002 als führendes deutsches Versandunternehmen auch nicht an den Erfolg von Amazon in diesem Markt gedacht hätte. So wiederholen sich vermeidbare Fehler in der Einschätzung von Amazon auch 2015 regelmäßig und spannende Einschätzungen, wie man sie in dieser Woche auch wieder zwischen Jochen und Marcel hören kann (Exchanges #84) bleiben “ungehört”.

Die vielen Perspektiven zeigen aus meiner Sicht sehr gut, dass es schwer ist Amazon richtig einzuschätzen. Mittlerweile bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich auf die Frage “Wie schätzen Sie Amazon ein?” mit der Antwort “Amazon ist erst der Anfang.” gar nicht so falsch liegen dürfte.

Das E-Commerce BuchMehr zu den Themen Amazon, E-Commerce Strategie und zur Bewertung diverser digitaler Geschäftsmodelle finden sich im Juni 2015 erschienenen „Das E-Commerce-Buch“ von Holger Schneider und Alexander Graf. Bereits nach kurzer Zeit führt das Buch diverse Bestseller Listen bei Amazon an und wurde im Schnitt mit 5 Sternen bewertet. 39,90€ Euro, 305 Seiten, 20 Jahre E-Commerce Know How.
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