Null DurchblickWenn Ranga Yogeshwar davon erzählt, wie schade es doch ist, dass die Amazon-Drohnen kein Leckerli für den Hund mitbringen werden und Günter Wallraff ein neues Buch vermarktet, in dem er alle Mitarbeiter in der Lager- und Auslieferungslogistik in den Verdacht stellt, sich unter grenzwertigen Arbeitsbedingungen ausbeuten zu lassen, dann fühlt man sich teilweise in einem falschen Film versetzt. Amazon sei der Teufel, weil sie unfassbare Gewinne machen und diese nicht bei uns versteuern. Hermes & DHL sind entsprechend Teufelsgehilfen, weil nun die Arbeiter dieses Landes in stressigen Logistikjobs arbeiten müssen und nicht mehr bei innenstadtaufwertenden Einzelhändlern. Das wir vor erheblichen Umbrüchen stehen, lässt sich aufgrund der aktuellen Entwicklungen kaum noch leugnen. Dass es uns aber allen bald viel schlechter gehen wird, weil Amazon & Co. so erfolgreich sind, ist dann aber doch ein Ammenmärchen. Die Märchen & Mythen, die um diese Entwicklung herum entwickelt werden, reichen um mehrere Bullshit-Bingo Karten zu füllen. Ich frage mich, ob die Kutscher vor über 100 Jahren genauso über neuartige Automobile gewettert haben. Schließlich haben dadurch fast alle Kutscher, Kutschenhersteller und Kutschpferdezüchter ihre Arbeit verloren. Hier sind meine Top 5 Mythen:

  1. Die Milliardengewinne der Onlinehändler fehlen dem Einzelhandel: Das Einzige, was momentan beobachtbar ist, sind die Verschiebungen von Einzelhandelsumsätzen aus dem stationären Handel in den Onlinehandel. Diese Verschiebungen sind erheblich, aber leider schaffen es die wenigsten Onlinehändler daraus Gewinne zu machen. Die ehemaligen Milliardengewinne des stationären Handels stehen nun den Endkunden zur Verfügung. Die Preistransparenz im Internet macht es möglich. 
  2. Amazon ist der Teufel: Nichts liegt mir ferner als Amazon zu verteidigen, aber Amazon hat zur Zeit einfach das beste und effektivste Handelsmodell. Sie haben die größte Auswahl, oft den besten Preis, geringe Lager- und Bearbeitungskosten und Kunden bestellen deshalb dort. Jedes Unternehmen würde sich über so einen Erfolg freuen, aber Erfolg anzustreben ist in unserem Wirtschaftssystem gewollt und auf keinen Fall zu verteufeln. Man kann es asozial finden, dass Amazon in Deutschland kaum Steuern zahlt, aber wie jedes große Unternehmen nutzt Amazon nur alle Marktchancen aus. Ist Volkswagen auch zu verteufeln, weil sie die effizienteste Produktionsstraße geschaffen haben? Wahrscheinlich nicht.
  3. Unsere Innenstädte sind bald leer und einsam: Die aktuelle Aktion einiger Einzelhändler in Hamburg mit verklebten Fensterscheiben soll darauf hinweisen, wie langweilig es bald in unseren Innenstädten aussehen wird, weil alle Kunden nun online einkaufen. Es reicht also nicht mehr aus einen Laden zu mieten, diesen mit etwas Ware auszustatten, zu dekorieren und auf die Kunden zu warten. Wie erschreckend. Langweilige Einzelhandelskonzepte können in Zukunft nicht mehr überleben. E-Commerce mag diese Entwicklung beschleunigen, aber sie ist nicht dadurch begründet. Einsam und leer sind viele Einkaufsstraßen schon heute – bei einem E-Commerce-Anteil am Einzelhandel von unter 10%. War mal jemand in letzter Zeit in Kiel, Neumünster, Rostock & Co. in der Stadt?
  4. Onlinekäufer stehlen die Beratungsleistung im Einzelhandel: Wenn Einzelhändler über E-Commerce erzählen kommt dieses Szenario zwangsläufig zur Sprache. Nach toller Beratung verlassen die Kunden den Laden, um dann günstig online zu bestellen. Diese Fälle mag es geben, aber sie sind nicht verallgemeinerbar. Die meisten E-Commerce-Einkäufe werden online gestartet und dort auch beendet. Die Produktrezensionen von Amazon sind in der Regel deutlich erhellender als die Erfahrungsberichte eines unmotivierten Verkäufers („Habe ich auch zu Hause.“). Was soll denn Amazon sagen, wenn Kunden die Produktrezensionen nutzen, um dann zum gleichen Preis bei Mediamarkt zu kaufen? Es gibt nicht eine belastbare Studie, die den Vorwurf des Beratungsklaus belegen kann.
  5. Die Lieferfahrzeuge verstopfen bald unsere Straßen: Dieses düstere Szenario wird gerne gezeichnet, wenn wir uns vorstellen sollen, dass bald alles geliefert werden soll. Dazu ein kleines Rechenbeispiel: 10 Kunden wohnen im Schnitt 5 km entfernt vom nächsten Elektronikmarkt und brauchen eine neue Digitalkamera. Die Kunden wohnen alle 1 km voneinander entfernt, wenn man sie nacheinander anfährt. Wenn nun alle Kunden ihre Kamera selber beim Elektronikmarkt kaufen würden, müsste eine Gesamtstrecke von 10x2x5 km zurückgelegt werden (50 km). Wenn aber ein Lieferauto alle Kunden beliefert, dann wird nur eine Strecke von 5×2+9×1 km zurückgelegt (19 km). Der Umwelt, den Straßen & Co. werden also 31 km Einkaufsfahrt erspart. Verblüffend.

E-Commerce ist ein Fakt. Es ist nicht gut oder böse und Veränderungen im Marktumfeld treffen nun einmal ältere Handelskonzepte stärker als agile neue Handelskonzepte. Bei Kassenzone versuche ich die Marktentwicklung möglichst neutral zu reflektieren und herauszufinden, welche Optionen die verschiedenen Marktteilnehmer haben. E-Commerce-Unternehmen haben andere Herausforderungen als stationäre Einzelhändler und in vielen Diskussionen wird einfach alles vermischt, um populäre Aussagen zu generieren.

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