PerspektivenManchmal denke ich, dass es doch langsam etwas zu abgegriffen klingt, wenn man heute noch vor den Effekten der Digitalisierung warnt. Im nächsten Moment bin ich zufällig mal wieder auf einem Meeting mit einigen Großhändlern oder Leuten aus dem B2B Sektor und denke mir bei der einen oder anderen Aussage: “Krass, unfassbar, wie kommen die darauf…..” Dann befinde ich mich unvermittelt wieder im pastoralen Kassenzone.de Modus.Ich wünsche wirklich niemanden, dass ihn die “digitale Keule” trifft, aber die meisten Unternehmen werden das nicht vermeiden können. Scheinbar durchläuft jedes Unternehmen in der Digitalisierung eine Phase, in der alle “digitalen” Facetten daraufhin geprüft werden wie man das angestammte Business schützen kann. Das läuft auf verschiedene Maßnahmen hinaus wie z.B.:

  • Den Außendienst zum Thema E-Commerce schulen – man kann ja nie wissen
  • Den Außendienst mit Tablets ausstatten, damit man auf aktuellere Produkte/Preise zurückgreifen kann
  • Den Leiter Key Accounts zu einer Online Messe schicken, welche Vorteile sich durch E-Commerce ergeben
  • Argumente vorbereiten, warum der Niedergang des Wettbewerbers xyz auf keinen Fall etwas mit dem Wachstum von E-Commerce Modellen im eigenen Segment zu tun hat
  • Die eigene Webseite relaunchen – responsive und so. Man will die Digitalisierung schließlich nicht verpennen
  • Einen neuen Leiter (ggf. Geschäftsführer) für das Thema online einstellen – im Idealfall einen Kandidaten mit Erfahrung von digital bereits umgewälzten Unternehmen wie Tchibo, Karstadt oder Neckermann

Das traurige an den Maßnahmen ist oft, dass sie von Leuten umgesetzt werden müssen, die es eigentlich besser wissen und wenig Möglichkeiten haben die angestammten Argumente im Top Management zu widerlegen. Auf dem Berliner B2B Tag des bevh hatten Tamer El-Hawari & ich die Möglichkeit diese Entwicklung aus Spryker Sicht darzulegen und darüber zu sinnieren, ob Contorion dem ein oder anderen B2B Anbieter gefährlich werden könnte. Ich glaube, dass Contorion mit signifikant Kapital dazu in die Lage versetzt werden kann. Aktuell kratzen sie an der Oberfläche und Peer Schmid von Adorsys hat mich zurecht darauf hingewiesen, dass B2B nicht gleich B2B ist. Für den Ersatzteiledienst von Siemens dürften schnelle Ladezeiten im Frontend egal sein. Zugegenermaßen erwartet wirklich niemand, dass man sich die Teile fürs Blockheizkraftwerk per App nachbestellen kann.

Martin Groß-Albenhausen hat für seinen Vortrag auf dem B2B ganz tief in “klassischen” Wirtschaftsbüchern gegraben und daran erklärt welche Distributionsfunktionen der Handels mal hatte. Ich kann mich noch bestens an diese Diskussion erinnern als Holger Schneider und ich bei der Otto Gruppe in unseren Rookie Jahren erklären mussten, was E-Commerce denn nun verändern würde. Mittlerweile glaube ich, dass es irreführend ist so zu argumentieren, weil diese Darstellung impliziert, dass die betroffenen Unternehmen so werden können wie die Angreifer. Das ist definitiv nicht der Fall. In der nun 25 Jahre alten Funktionsdarstellung des Handels, kommen allerhand Geschäftsfelder zusammen. Ware transportieren, finanzieren und darüber informieren.

Handelsfunktionen

Aus diesen Funktionen leiten sich dutzende (B2B) Handelsmodelle ab, die im Gabler Lexikon sehr schön aufgezählt sind.

  • Distribuierender Großhandel (Schwerpunkt: Absatzseite),
  • Binnengroßhandelsbetriebe, deren Aktivitäten sich auf ein Land beschränken, die mithin innerhalb nationaler Grenzen eines Staates angesiedelt sind, und die sowohl auf der Beschaffungs- als auch auf der Absatzseite ausschließlich mit inländischen Marktpartnern zusammenarbeiten,
  • Außengroßhandelsbetriebe, deren Aktivitäten sich zwischen Ländern abspielen und damit über die nationalen Grenzen eines Staates hinausreichen (Export, Import, Transit…)
  • Kollektierender Großhandel (Schwerpunkt: Beschaffungsseite): (Schrotthandel, Landmaschinen…)
  • Distribuierender Großhandel (Schwerpunkt: Absatzseite),
  • Grossierer als Großhandelsbetrieb, der an Einzelhandelsbetriebe, gewerbliche Verwen­der und Großverbraucher absetzt,
  • Zentralgrossierer als Großhandelsbetriebe, die an zentralen Marktplätzen ansässig sind und vornehmlich an andere Großhandelsbetriebe absetzen (z.B. die Zentralen der Handelsgruppen im Lebensmittelhandel).

Alle diese B2B Handelsformen bedienen sich der Nachfrage nach Handelsfunktionen diverser Akteure im Markt. Nun ist es nicht so, dass diese Nachfrage auf einmal geringer wird. In der Argumentation von Martin kann diese Nachfrage von neuen Akteuren allerdings viel besser bedient werden. Er hat das „leicht“ vereinfacht in dem folgenden Chart dargestellt.

Handelsfunktionen-amazon-google

Als er das gezeigt hat, ging ein kurzes Raunen durch die Reihen. Man konnte in den Köpfen förmlich die Frage nach dem “Betrifft mich das auch? Was kann ich besser?” sehen. Im Anschluss hat das in der Diskussion gemündet, ob B2C Erkenntnisse wirklich auf den B2B Großhandel zu übertragen sind. Die folgenden Gegenargumente werden dabei immer wieder genannt:

  • Die Produktarten im B2B sind nicht für die o.g. Disruptionen geeignet (C-Teile, Große Anlagen…)
  • Der Markt ist extrem fragmentiert und nicht dafür geeignet von einem oder mehreren großen Angreifern übernommen zu werden
  • Der Preis spielt im B2B eine viel geringere Rolle für die Kaufentscheidung. Service und Verfügbarkeit sind entscheidender. Die Angreifer kommen aber nur über das Preisargument.
  • Der Markt ist riesig (870 Mrd Euro +) und zu weiten Teilen schon im E-Commerce vertreten, z.B. durch automatisierte Bestellprozesse über das SAP System

Aus der Sicht bestehender Marktteilnehmer ist jedes Argument für sich stark genug, um die Gefahr durch Amazon Supply, Contorion und Co. zu negieren. Wenn man die Argumente lange genug betrachtet, leuchten sie auch ein und das führt dann zu den eingangs genannten Aktionen, die zur “Digitalisierung” beitragen sollen. Je mehr Akivität, desto stolzer ist das betreffende Unternehmen darauf. Dazu passen die Aussagen von Gisbert Rühle (GF von Klöckner) in einem aktuellen Capital Beitrag zur Digitalisierung von Konzernen.

Derzeit werden noch fast 90 Prozent des Stahlhandels per Fax oder Telefon abgewickelt, auch bei Draxinger. Das dauert, ist fehleranfällig und hat zur Folge, dass die gleichen Daten immer wieder irgendwo eingetippt werden müssen. Zudem begleitet jede Stahllieferung eine penible Dokumentation in Form von Werkszeugnissen. Firmenchefin Ruth Draxinger, die die Firma in zweiter Generation führt und Rühl aufmerksam zuhört, hat eine Vorstellung, was das Ziel wäre: „Eine transparente Lieferkette – am liebsten in Echtzeit.“ Und Rühl nimmt das ernst. Alle Daten sollen künftig per Online-Plattform übermittelt werden. Klöckner, Platzhirsch einer konservativen Branche, will jetzt in der digitalen Welt ankommen. Flexibler und stärker vernetzt werden. Und mehr über seine Abnehmer wissen.

Interessanterweise wird die Otto Gruppe in diesem Kontext als leuchtendes Vorbild für die Branche genannt. Gemessen am noch jungen Digitalaktivismus manch anderer Konzerne trifft das 100%ig zu, aber gerade die Erfahrungen bei Otto sollten doch Warnung genug sein. Sogar Otto muss auch jetzt permanent investieren, um neue Modelle und Lösungsansätze zu finden, obwohl sie einem Klöckner schon 10-15 Jahre voraus sind. Für mich bedeutet das im Umkehrschluss, dass immernoch zu zaghaft investiert wird und dann auch noch in die falschen Dinge. Und wenn investiert wird, dann fehlen oft Steuerungskompetenz und Zielbilder in den Projekten. Dazu wird sich in an dieser Stelle Björn Schotte (GF von Mayflower) noch einmal ausführlich äußern.

Viele Teile des B2B Handels verhalten sich zur Zeit wie Franz. Sie machen nichts falsch. “Ja Alex, du hast leicht reden. Was würdest du denn machen?” Diese Frage muss ich mir dann gefallen lassen und meistens folgen ein paar einfache Fragen:

  1. Wie lange wird es dauern, bis dein Geschäftsmodell von Amazon & Co. ernsthaft bedroht wird? (Antwort: Meistens 5-10 Jahre)
  2. Wie lange braucht dein Unternehmen, um das nächste relevante “digitale” Projekt durchzuführen? (Antwort: 1-2 Jahre)
  3. Wieviel Wegstrecke sind damit zur vollständigen Digitalisierung gegangen? (Antwort: 1-5%)
  4. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Tempo ausreicht, um den 5-10 Jahres Vorsprung für sich zu nutzen? (Antwort: 10-20%)
  5. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, wenn der Wettbewerb schneller wird, was ich sehr wahrscheinlich finde? (Antwort: 0-5%)

Also: Auch wenn die meisten Unternehmen heute noch nicht wissen wer sie aus dem Markt nehmen wird bzw. das versucht, wissen fast alle, dass es bald passieren wird. Wenn nun aber der Transformationsprozess zu langsam geht (immer der Fall!), was würde ich tun? Dann würde ich a) massiv digitale Kompetenzen zukaufen und b) all mein Geld auf Grüne Wiese Projekte setzen, weil diese eine realistische Chance haben Märkte neu zu gestalten. So ist auch das Collins Projekt entstanden, dass immerhin ein neues Handelsmodell definiert hat (Open Commerce) und damit Pioniervorteile für sich nutzen kann. Würde ich dann die Digitalisierungsprojekte (Tablet für den Außendienst usw…) im Tausch einstellen? Sehr wahrscheinlich ja. Ich würde so viel Geld wie möglich in Projekte stecken, die keine Transformationskosten mit sich bringen.

Das E-Commerce BuchMehr zu den Themen Großhandel, E-Commerce Strategie und zur Bewertung diverser digitaler Geschäftsmodelle finden sich im Juni 2015 erschienenen „Das E-Commerce-Buch“ von Holger Schneider und Alexander Graf. Bereits nach kurzer Zeit führt das Buch diverse Bestseller Listen bei Amazon an und wurde im Schnitt mit 5 Sternen bewertet. 39,90€ Euro, 305 Seiten, 20 Jahre E-Commerce Know How.

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